Pica-Syndrom bei Hund & Katze — Ursachen, Diagnostik und Therapie

Pica bezeichnet das wiederholte Kauen oder Fressen von nicht-essbaren Stoffen (Plastik, Stoff, Papier, Erde, Streu, Haare, Steinchen etc.). Obwohl viele Hunde und Katzen gelegentlich an Gegenständen kauen, spricht man von Pica erst, wenn das Verhalten zwanghaft wird, Gegenstände verschluckt werden oder gesundheitliche Probleme entstehen. 

Pica kann harmlos wirken, führt aber häufig zu ernsthaften Problemen: Magen-Darm-Irritationen, Fremdkörperverschluss, Perforation, Vergiftungen (z. B. durch xylitol, Reinigungsmittel, Schneckenköder), Zahnverletzungen oder chronische Entzündungen.

 

Pica kann auch ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung sein. Häufig sind organische Ursachen wie chronische Enteropathien oder Probleme mit Leber und Galle beteiligt.

Ebenso stecken häufig Nährstoffmängel dahinter.

Formen / Typen von Pica

  • Gelegentliches Kauen (ohne Verschlucken) — oft spielerisch oder ergründend.
  • Fress-Pica (objekt wird verschluckt) — deutlich gefährlicher (Fremdkörper).
  • Stereotype / zwanghafte Formen — Teil eines Zwangs- oder Stressmusters (OCD).
  • Pica im Rahmen systemischer Erkrankungen — Nährstoffmangel, Endokrinopathien, Lebererkrankungen, chronische Entzündungen.

Mögliche Ursachen — medizinisch und verhaltensbedingt

Medizinische Ursachen

  • Chronische Gastrointestinale Erkrankungen (chronische Enteropathie, IBD): Neue Studien zeigen eine auffällige Assoziation zwischen Pica/ Fremdkörpern und histologisch nachgewiesener chronischer Enteropathie. Bei solchen Patienten findet sich häufig eine lymphoplasmazelluläre Entzündung insbesondere des Duodenums.
  • Parasitosen / Infektionen (z. B. Giardia, andere Darmparasiten) — können Appetit, Verdauung und Nährstoffaufnahme stören.
  • Malabsorption / Vitamin-B12-(Mangel, Cobalamin) — führt zu Appetitstörungen, Gehirn- und Darmsymptomen.
  • Lebererkrankungen / portosystemische Shunts / hepatische Enzephalopathie — neurologische Veränderungen und ungewöhnliches Fressverhalten sind möglich.
  • Endokrinologische Ursachen: Diabetes mellitus, Hyperthyreose (bei Katzen) oder Steroidtherapie → gesteigerter Appetit / verändertes Verhalten.
  • Hämatologische Ursachen / Anämien (z. B. Eisenmangel) — bei Menschen bekannt, bei Tieren ebenfalls assoziiert mit Pica-ähnlichem Verhalten.
  • Nährstoffdefizite (Zink, Eisen, ev. andere Mikro-/Makronährstoffe) — können Zwangsverhalten bzw. „Suche“ nach nicht-Nahrung auslösen.

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Boredom / Unterforderung / mangelnde Auslastung
  • Stress, Trennungsangst oder Zwangsstörungen
  • Frühzeitiges Absetzen / mangelnde Sozialisierung (häufiger bei jungen Tieren)
  • Aufmerksamkeitserlernen (Tier lernt, dass unerwünschtes Kauen Reaktion auslöst)

Oft ist Pica multifaktoriell — medizinische und verhaltensbedingte Faktoren überlagern sich.

 

Welche Gegenstände werden gefressen — was ist typisch?

  • Plastik, Verpackungen, Plastiktüten
  • Katzenstreu, Erde/Lehm, Gras
  • Stoffe (Socken, Decken), Haarbürsten, Schnüre/String-Foreign-Bodies (bei Katzen besonders gefährlich)
  • Decken oder Kissenbezüge 
  • Fremdkörper wie Steine, kleine Spielzeuge

Bei Katzen sind „String-Bezoare“ (Fäden, Schnüre) besonders gefürchtet — sie führen oft zu ernsthaften Darmschäden.

Klinische Zeichen & Komplikationen

  • Wiederholtes Kauen oder „Suchen“ nach Gegenständen
  • Erbrechen, Durchfall, (teilweise) Appetitverlust oder paradox gesteigerter Appetit
  • Schmerzen, Abgeschlagenheit, Fieber (bei Perforation/Peritonitis)
  • Anzeichen eines Darmverschlusses: persistentem Erbrechen, fehlender Kotabsatz, starke Bauchschmerzen — Notfall!
  • Risiko einer Vergiftung, je nach verschlucktem Material (z. B. xylitol, Rodentizide, Reinigungsmittel).

Präventive Aspekte

Frühe Sozialisierung und Prägung bei Welpen/Kitten

Kritische Sozialisationsperioden nutzen:

  • Welpen: 3.–14. Lebenswoche (primäre Sozialisationsphase)
  • Kätzchen: 2.–9. Lebenswoche (besonders sensible Phase)
  • Positive Erfahrungen mit verschiedenen Materialien, Texturen und Gegenständen schaffen
  • Kontrollierte Exposition gegenüber alltäglichen Haushaltsgegenständen unter Aufsicht

Frühe Kaugewohnheiten lenken:

  • Bereitstellung artspezifischer Kauspielzeuge von Beginn an
  • Umleitung des natürlichen Erkundungsverhaltens auf sichere Objekte
  • Positive Verstärkung für erwünschtes Kauverhalten
  • Konsequente, aber sanfte Unterbrechung bei Fehlverhalten (ohne Bestrafung)

Stressprävention in der Entwicklung:

  • Vermeidung früher Traumata (abrupte Trennung von der Mutter, häufige Ortswechsel)
  • Gradueller Übergang in neue Umgebungen
  • Aufbau von Vertrauen und Sicherheitsgefühl

Fütterungsempfehlungen zur Pica-Prävention

Hochwertige, ausgewogene Ernährung:

  • Vollwertige Alleinfuttermittel mit allen essentiellen Nährstoffen
  • Regelmäßige Überprüfung der Nährstoffbedarfsdeckung, besonders bei wachsenden Tieren
  • Vermeidung von Mangelzuständen durch qualitätsbewusste Futterauswahl

Optimierte Fütterungsstrategien:

  • Mehrere kleine Mahlzeiten statt einer großen (3–4× täglich bei Jungtieren, 2× bei Erwachsenen)
  • Strukturierte Fütterungszeiten zur Schaffung von Routine und Sicherheit
  • Futterpuzzle und langsame Futteraufnahme zur mentalen Auslastung
  • Vermeidung von langen Hungerphasen, die zu gesteigertem Appetit führen können

Besondere Aufmerksamkeit bei:

  • Diätfutter: regelmäßige Kontrolle der Mikronährstoffversorgung
  • Selbst zusammengestellten Rationen: professionelle Ernährungsberatung
  • Wachstumsphase: erhöhter Nährstoffbedarf beachten

Umgebungsgestaltung für gefährdete Tiere

"Pica-sichere" Wohnung:

  • Systematische Entfernung aller verschluckbaren Kleinteile
  • Sicherung von Müll in verschließbaren Behältern
  • Aufbewahrung von Schnüren, Gummibändern, Haargummis außer Reichweite
  • Besondere Vorsicht bei Renovierungsarbeiten (Schrauben, Dübel, Farbspäne)

Positive Umgebungsanreicherung:

  • Ausreichend sichere Kauspielzeuge in verschiedenen Texturen
  • Regelmäßiger Wechsel der Spielzeuge zur Aufrechterhaltung des Interesses
  • Kratzbäume, Klettermöglichkeiten für Katzen
  • Intelligenzspielzeug zur kognitiven Auslastung

Struktur und Routine:

  • Feste Tagesabläufe reduzieren Stress und Unsicherheit
  • Ausreichend Bewegung und Beschäftigung (mind. 2–3 intensive Spielphasen täglich)
  • Rückzugsmöglichkeiten in ruhigen Bereichen

Rassedispositionen

Katzen:

  • Siamesische und orientalische Rassen: Erhöhtes Risiko für Pica, insbesondere "Wool-Sucking" (Wollsaugen)
  • Birman-Katzen: Überdurchschnittlich häufig betroffen
  • Burmesen: Ähnliche Prädisposition wie Siamesen
  • Alle orientalischen und asiatischen Rassen zeigen eine genetische Veranlagung

Hunde:

  • Labrador Retriever: Besonders häufig betroffen, möglicherweise aufgrund ihrer Neigung, alles zu erkunden und zu apportieren
  • Golden Retriever: Ähnliche Tendenz wie Labradore
  • Beagle: Ausgeprägter Appetit und Neugier können zu Pica führen
  • Deutsche Schäferhunde: Besonders bei unzureichender geistiger Auslastung

Mögliche genetische Faktoren:

  • Vererbte Impulskontrollschwäche
  • Unterschiedliche Neurotransmitter-Regulation
  • Rassespezifische Stresssensibilität

Diagnostisches Vorgehen — Schritt für Schritt

Anamnese
Beginn, Häufigkeit, welche Materialien, Kontext (Stress, Futterwechsel), begleitende Symptome (Erbrechen, Durst, Gewichtsveränderung).
Fragen zur Fütterung (was, wie viel, wie oft), Zugang zu Müll, Chemikalien, Kindernspielzeug etc.

Klinische Untersuchung
Basislabor/ Großes Blutbild   (Nierenwerte, Leberenzyme, Proteine, Elektrolyte), Blutzucker / T4 
Cobalamin (Vit. B12), ggf. Folsäure (bei chronischen Magen-Darm-Beschwerden)
Urin (U/A).
Blutuntersuchung auf Nährstoffe: Überprüfung u. a. von Eisen, Zink, Kupfer, Cobalamin (Vitamin B12), Folsäure sowie Spurenelementen.

Diese Basisuntersuchungen sind wichtig, weil Pica sowohl Folge als auch Ursache systemischer Erkrankungen sein kann.

Kotuntersuchung & Parasitencheck (Oozysten, Giardia-Antigen, PCR je nach Verdacht).

Bildgebung
Röntgen (Ausscheidung von radiodichten Fremdkörpern), Sonographie (nicht-radiodichte Fremdkörper, Darmwandveränderungen).
CT oder Endoskopie, wenn nötig — z. B. zur Visualisierung oder Entfernung von Fremdkörpern.

Fellmineralanalyse
Die chemische Analyse des Fells erfolgt über eine massenspektroskopische Untersuchung (ICP-MS) und ein Fließinjektion-Quecksilber-Kaltdampf-System (FIMS). Das Ergebnis gibt Einblick in die Nährstoffversorgung und mögliche toxische Belastungen der letzten drei Monate.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Bioresonanzanalyse, sondern um eine rein labordiagnostische, chemische Auswertung.

Weiterführende Diagnostik
Bei Verhaltensverdacht: ggf. Verhaltenstest/Videoanalyse, Ausschluss organischer Ursachen vor psychopharmakologischer Therapie.

Therapieprinzipien — medizinisch + verhaltenstherapeutisch

Grundregel: Zuerst organische Ursachen ausschließen und behandeln — nur dann macht reines Verhaltensmanagement Sinn.

Medizinisch

  • Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung (z. B. Entzündungshemmung oder diätetische Therapie bei chronischer Enteropathie, Behandlung von Parasiten, Lebertherapie, Korrektur von Mangelzuständen wie Cobalamin/Eisen).
  • Fremdkörper: je nach Lage und Größe endoskopische Entfernung oder chirurgischer Eingriff. Bei Verschluss dringende OP

Verhaltenstherapie & Management

  • Umgebungssicherung: alle Gefahrenquellen (Müll, Plastiktüten, Schnüre, Medikamente) unzugänglich machen.
  • Ersatzverhalten: sichere Kauspielzeuge, besonders bei Hunden; Katzenspielzeug mit Futterbelohnung; Futterpuzzle, intermittierendes Füttern.
  • Auslastung & Struktur: mehr Sozialkontakt, intensivere Spiel-/Arbeitsphasen, planbare Fütterungszeiten.
  • Training & positive Verstärkung: Belohnung für alternatives Verhalten; Ignorieren von „Aufmerksamkeitssuchen“.
  • Adaptil/pheromone/Umweltmodifikationen können bei Stress helfen (individuell bewerten).

Pharmakotherapie (nur unter veterinärmedizinischer Aufsicht)

Bei zwanghaftem/obsessivem Verhalten können Medikamente sinnvoll sein — immer in Kombination mit Verhaltenstherapie. In der Veterinärmedizin kommen zur Anwendung: SSRI (z. B. Fluoxetin), Trizyklische Antidepressiva (z. B. Clomipramine) oder in Einzelfällen Benzodiazepine/Gabapentin, je nach Indikation und Begleiterkrankungen. Nebenwirkungen und Kontraindikationen beachten.
Medikamente ersetzen nicht die Ursachenbehandlung.

Praxis-Checkliste für Tierhalter (was Sie sofort tun können)

  • Entfernen Sie kontrollierbar alle Kleinteile, Plastiktüten, Schnüre, Gummiartikel aus Reichweite.
  • Bieten Sie tägliche, kurze, intensive Spiel-/Suchphasen (mind. 2–3×/Tag).
  • Wechseln Sie Spielzeug regelmäßig, verwenden Sie Futterpuzzles.
  • Notieren Sie Art, Häufigkeit und Umstände der Vorfälle (Tagebuch mit Fotos).
  • Wenn das Tier etwas Gefährliches gefressen hat (Medikament, xylitol-Kaugummi, Rodentizid, Schnüre): sofort Tierarzt/Notfall.
  • Bei wiederholtem Pica: Termin zum ausführlichen Check (siehe Diagnostik).

Wann ist es ein Notfall?

Anhaltendes Erbrechen, kein Kotabsatz, sichtbare starke Bauchschmerzen, Schockzeichen (schwaches Wesen, blasse Schleimhäute), oder wenn toxische Substanzen gefressen wurden → Notfall (notärztliche Vorstellung).

Prognose

Die Prognose hängt von der Ursache ab. Ist ein behandelbarer medizinischer Auslöser vorhanden (z. B. Parasiten, Nährstoffmangel, behandelbare Enteropathie), kann die Prognose gut sein. Fremdkörper mit operativem Eingriff bergen höhere Risiken.

Bei rein verhaltensbedingtem Pica sind Langzeit-Management, Geduld und Kombinationstherapie nötig — Rückfälle möglich.

Schlusswort: Die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit

Das Pica-Syndrom verdeutlicht eindrucksvoll, dass komplexe Verhaltensstörungen bei Tieren selten mit einem einzigen therapeutischen Ansatz erfolgreich behandelt werden können. Die Vielschichtigkeit der möglichen Ursachen – von organischen Erkrankungen über Nährstoffdefizite bis hin zu tief verwurzelten Verhaltensmustern – erfordert ein koordiniertes Zusammenwirken verschiedener Fachbereiche.

Das interdisziplinäre Team

Der Tierarzt bildet das medizinische Fundament der Behandlung. Durch systematische Diagnostik deckt er organische Ursachen auf, behandelt Grunderkrankungen und stellt sicher, dass alle gesundheitlichen Aspekte berücksichtigt werden. Seine Expertise ist unverzichtbar für die Differentialdiagnostik und die medikamentöse Therapie bei schweren Zwangsstörungen.

Der Tierheilpraktiker mit Verhaltensausbildung oder spezialisierte Verhaltenstherapeut bringt das tiefe Verständnis für Verhaltensmuster, Lernprozesse und die Mensch-Tier-Beziehung ein. Er entwickelt individuelle Verhaltensmodifikationsprogramme, unterstützt bei der Umgebungsgestaltung und begleitet den langfristigen Therapieprozess mit bewährten verhaltenstherapeutischen Methoden.

Der Tierhalter ist der Schlüssel zum Therapieerfolg. Nur durch seine konsequente Mitarbeit, Geduld und das Verständnis für die Komplexität des Problems können nachhaltige Veränderungen erreicht werden. Seine Beobachtungen im Alltag liefern wertvolle Informationen über Auslöser und Fortschritte.

Warum Zusammenarbeit entscheidend ist

Pica ist mehr als ein "einfaches" Verhaltensproblem – es ist ein Symptom, das an der Schnittstelle zwischen Medizin und Verhaltenstherapie steht. Ein rein medizinischer Ansatz übersieht oft die erlernten Verhaltensmuster und Umweltfaktoren. Eine ausschließlich verhaltenstherapeutische Herangehensweise kann zugrunde liegende organische Ursachen unentdeckt lassen, was den Therapieerfolg gefährdet und das Tierwohl beeinträchtigt.

Erfolgreiche Behandlung bedeutet:

  • Medizinische Abklärung und Behandlung von Grunderkrankungen
  • Professionelle Verhaltensanalyse und individuell angepasste Therapiepläne
  • Konsequente Umsetzung im häuslichen Umfeld
  • Regelmäßige Erfolgskontrolle und Anpassung der Strategie
  • Langfristige Begleitung, da Rückfälle möglich sind

Ein gemeinsames Ziel

Das Wohl des Tieres steht im Mittelpunkt aller Bemühungen. Durch die Kombination medizinischer Expertise, verhaltenstherapeutischer Kompetenz und der engagierten Mitarbeit des Tierhalters entstehen Behandlungskonzepte, die nicht nur Symptome lindern, sondern nachhaltige Lebensqualität schaffen.

Diese ganzheitliche Herangehensweise ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Sie respektiert die Komplexität des Pica-Syndroms und bietet den betroffenen Tieren die bestmöglichen Heilungschancen.

Die Botschaft ist klar: Pica erfordert Teamwork – zwischen allen Beteiligten, zum Wohl des Tieres.

Quellen / weiterführende Literatur 

Unusual eating habits (pica) — UC Davis VMG. vetmed.ucdavis.edu

Pica in cats — International Cat Care (ISFM/ICC). icatcare.org

JAVMA: „Pica as a clinical sign of a chronic enteropathy in dogs and cats“ (aktuelle Studie). PubMed

Merck Veterinary Manual — Behavioral problems / diagnostische Empfehlungen. Merck Veterinary Manual

MSD Veterinary Manual — Medikamente und Verhaltenstherapie bei Katzen/Hunden. MSD Veterinary Manual

Cornell University — Risiken und Management von gastrointestinalen Fremdkörpern. vet.cornell.edu