Warum Verhaltenstherapie und Darmgesundheit zusammengehören – Ein wissenschaftlich fundierter Leitfaden für Tierhalter
Die unsichtbare Verbindung: Wenn Emotionen auf den Magen schlagen
Kennen Sie das? Ihr Hund bekommt plötzlich Durchfall, wenn Besuch kommt. Ihre Katze verweigert das Futter nach einem Umzug. Was auf den ersten Blick wie ein reines Verdauungsproblem aussieht, hat oft tiefere Wurzeln in der Psyche unserer Tiere. Die moderne Veterinärmedizin erkennt zunehmend: Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden – besonders wenn es um Darm und Verhalten geht.
Die Darm-Hirn-Achse: Eine faszinierende Entdeckung
Die sogenannte Darm-Hirn-Achse beschreibt die bidirektionale, also wechselseitige Kommunikation zwischen dem Verdauungstrakt und dem Gehirn. Diese Verbindung ist keine neue Erfindung der Natur – sie ist seit Urzeiten in allen Säugetieren vorhanden und überlebenswichtig.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass diese Achse über mehrere Wege funktioniert:
Nervenbahnen: Vor allem der Vagusnerv verbindet Darm und Gehirn direkt
Hormone: Botenstoffe wie Cortisol beeinflussen beide Organe
Immunbotenstoffe: Entzündungssignale aus dem Darm erreichen das Gehirn
Mikrobiom-Signale: Darmbakterien produzieren Substanzen, die das Gehirn beeinflussen
Was die Wissenschaft über Stress und Darmgesundheit sagt
Wegweisende Forschungsergebnisse
Aktuelle Studien liefern beeindruckende Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen psychischem Stress und Darmgesundheit bei Tieren:
Die Max-Planck-Studie (2023): Forscher der Icahn School of Medicine und des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik identifizierten einen neuronalen Schaltkreis, der das Gehirn mit den Brunner-Drüsen im Dünndarm verbindet. Diese Drüsen produzieren Schleim, der als Nährboden für nützliche Darmbakterien dient. Bei Stress reduziert die Amygdala (das Angstzentrum im Gehirn) ihre Aktivität und sendet weniger Signale über den Vagusnerv – die Schleimproduktion sinkt, die Darmflora leidet.
Purina-Forschung zu Angststörungen: Eine placebokontrollierte Studie zeigte, dass bis zu 70 Prozent der Verhaltensprobleme bei Hunden auf Angstzustände zurückzuführen sind. Die Gabe spezieller Probiotika (Bifidobacterium longum) konnte nachweislich Angst bei Hunden reduzieren.
Kanadische Reizdarmstudie: Forscher transplantierten Darmbakterien von Menschen mit Reizdarmsyndrom und Angststörungen auf keimfreie Mäuse. Die Tiere entwickelten nicht nur Darmsymptome, sondern zeigten auch deutlich ängstlicheres Verhalten – ein eindeutiger Beweis für die Macht der Darmflora auf die Psyche.
Wie Stress den Darm verändert
Wenn ein Tier unter Stress steht, passiert Folgendes im Körper:
- Kampf-oder-Flucht-Reaktion: Der Körper schüttet Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin aus
- Umverteilung der Ressourcen: Blut fließt verstärkt in die Muskeln, der Verdauungstrakt wird schlechter durchblutet
- Gestörte Darmbarriere: Die Darmwand wird durchlässiger ("Leaky Gut"), Giftstoffe und Krankheitserreger können leichter eindringen
- Verändertes Mikrobiom: Nützliche Darmbakterien wie Laktobazillen nehmen ab, schädliche können sich ausbreiten
- Geschwächtes Immunsystem: Etwa 80 Prozent des Immunsystems sitzen im Darm – bei gestörter Darmflora steigt die Infektanfälligkeit
Chronischer Stress: Wenn aus Akutreaktionen Dauerzustände werden
Die Spirale nach unten
In der Natur ist Stress eine kurzfristige Reaktion auf Bedrohungen. Nach dem Ereignis folgt eine Erholungsphase. Das Problem: In der modernen Welt unserer Haustiere fehlen diese Phasen oft. Chronischer Stress entsteht und führt zu:
Psychische Folgen:
- Erhöhte Aggressionsbereitschaft und Reizbarkeit
- Verminderte Konzentration und Lernfähigkeit
- Entwicklung von Angststörungen
Körperliche Folgen:
- Magen-Darm-Beschwerden (Durchfall, Verstopfung, Erbrechen)
- Geschwächtes Immunsystem und erhöhte Infektanfälligkeit
- Hautprobleme und übermäßiges Putzen/Lecken
- Herz-Kreislauf-Belastung
- Stoffwechselstörungen bis hin zu Diabetes
- Bei Katzen: Probleme mit den unteren Harnwegen
Stresssignale erkennen: Ihr Tier spricht mit Ihnen
Körpersprache und Verhalten bei Hunden
Hunde kommunizieren Stress über eine Vielzahl von Signalen. Wichtig: Ein einzelnes Signal allein muss nicht zwingend Stress bedeuten – die Kombination und der Kontext sind entscheidend.
Deutliche Stresssignale:
- Hecheln ohne Anstrengung oder Hitze
- Zittern und Schütteln
- Eingezogener Schwanz zwischen den Beinen
- Nach hinten gelegte, angelegte Ohren
- Geweitete Pupillen
- Geduckte Körperhaltung
Subtilere Signale (Beschwichtigungssignale):
- Häufiges Gähnen
- Schnelles Lippen- oder Nasenlecken
- Abwenden des Blicks
- Kratzen oder Schütteln ohne erkennbaren Grund
- Scharren am Boden
- Schnüffeln in unangemessenen Situationen
- Langsame Bewegungen
Verhaltensänderungen:
- Übermäßiges Bellen, Winseln oder Jaulen
- Appetitlosigkeit oder übermäßiges Fressen
- Unruhe, Rastlosigkeit, Auf- und Ablaufen
- Zerstörerisches Verhalten
- Rückzug und Vermeidung
- Plötzliche Unsauberkeit im Haus
- Übermäßiges Lecken oder Kauen an Pfoten
Stresssignale bei Katzen
Katzen sind Meister darin, ihre Gefühle zu verbergen – ein evolutionäres Erbe als sowohl Jäger als auch potenzielle Beute. Umso wichtiger ist es, die Zeichen zu kennen:
Körperliche Anzeichen:
- Übermäßiges Putzverhalten mit kahlen Stellen
- Geweitete Pupillen
- Angelegte Ohren
- Aufgeplustertes Fell
- Veränderungen im Appetit
- Verdauungsprobleme (Durchfall, Verstopfung)
Verhaltensänderungen:
- Verstecken und Rückzug
- Verlust der Stubenreinheit
- Markierverhalten außerhalb der Katzentoilette
- Aggressives Verhalten
- Vermehrtes Miauen oder Fauchen
- Veränderte Schlafmuster
- Kratzen an Möbeln in ungewöhnlichem Maße
Warum Verhaltenstherapie und Darmgesundheit zusammengehören
Der ganzheitliche Ansatz
Die Erkenntnis, dass Verhalten und Darmgesundheit untrennbar verbunden sind, revolutioniert die Tiermedizin. Ein rein symptomatischer Ansatz – etwa die Behandlung von Durchfall mit Medikamenten ohne Berücksichtigung der psychischen Komponente – greift oft zu kurz.
Erfolgversprechende integrierte Therapieansätze umfassen:
- Verhaltenstherapie: Desensibilisierung, positive Verstärkung, Stressmanagement
- Ernährungsanpassung: Spezielle Diäten mit stressreduzierenden Komponenten
- Probiotika und Präbiotika: Gezielte Unterstützung des Mikrobioms
- Umweltmanagement: Schaffung stressfreier Zonen
- Medikamentöse Unterstützung: Wenn nötig, unter tierärztlicher Aufsicht
Die Rolle spezieller Nährstoffe
Forschungen zeigen, dass bestimmte Nahrungsbestandteile sowohl das Verhalten als auch die Darmgesundheit positiv beeinflussen können:
Alpha-Casozepin (hydrolysiertes Milchprotein): In der Natur wird diese Substanz von Jungtieren aus der Muttermilch gebildet und trägt zur beruhigenden Wirkung des Säugens bei. Studien zeigen angstlösende Effekte bei erwachsenen Hunden und Katzen.
Omega-3-Fettsäuren: Wirken entzündungshemmend und unterstützen die Gehirnfunktion.
L-Theanin: Eine Aminosäure mit beruhigender Wirkung auf das Nervensystem.
L-Tryptophan: Vorstufe von Serotonin, dem "Glückshormon".
Probiotika: Spezielle Bakterienstämme wie Bifidobacterium longum und Lactobacillus rhamnosus können die Darm-Hirn-Kommunikation positiv beeinflussen und Angst reduzieren.
Präbiotika: Ballaststoffe, die das Wachstum nützlicher Darmbakterien fördern.
Praktische Tipps für Tierhalter: Stress reduzieren und Darmgesundheit fördern
1. Schaffen Sie Struktur und Sicherheit
Routinen etablieren:
- Feste Fütterungszeiten
- Regelmäßige Gassizeiten bzw. Spielzeiten
- Vorhersehbare Tagesabläufe
- Ausreichende Ruhephasen
Sichere Rückzugsorte:
- Ruhige Ecken oder Räume
- Höhlen, Boxen oder erhöhte Plätze für Katzen
- Orte, an denen das Tier ungestört sein kann
2. Erkennen Sie Stressauslöser
Führen Sie ein "Stresstagebuch", um Muster zu erkennen:
- Wann treten die Symptome auf?
- Was ist kurz vorher passiert?
- Gibt es wiederkehrende Situationen?
Häufige Stressauslöser:
- Laute Geräusche (Gewitter, Feuerwerk, Baustellenlärm)
- Tierarztbesuche
- Trennungsangst bei Alleinsein
- Neue Haustiere oder Familienmitglieder
- Umzüge oder Renovierungen
- Veränderungen in der Routine
- Begegnungen mit unbekannten Tieren oder Menschen
- Reizüberflutung oder chronische Unterforderung
3. Trainieren Sie mit positiver Verstärkung
- Niemals bestrafen – das verstärkt Angst und Stress
- Arbeiten Sie mit Belohnungen und positiver Verstärkung
- Üben Sie in kleinen Schritten (Desensibilisierung)
- Überfordern Sie Ihr Tier nicht – ein gestresstes Tier kann nicht lernen
- Beenden Sie Trainingseinheiten immer mit einem Erfolgserlebnis
4. Medical Training: Stress beim Tierarzt vorbeugen
Gewöhnen Sie Ihr Tier schrittweise an Untersuchungen:
- Berührungen an Pfoten, Ohren, Maul üben
- Transportbox als positiven Ort etablieren
- Regelmäßige "Spaßbesuche" in der Tierarztpraxis ohne Behandlung
- Bei ängstlichen Tieren: Ruhige Termine außerhalb der Stoßzeiten vereinbaren
5. Ernährung als Unterstützung
Bei akutem Stress:
- Leicht verdauliche Kost
- Kleine, häufige Mahlzeiten
- Probiotika zur Stabilisierung der Darmflora
- Ausreichend Flüssigkeit
Bei chronischem Stress:
- Spezialfutter mit stressreduzierenden Komponenten
- Hochwertige Proteine und Ballaststoffe
- Vermeidung von Futtermittelallergenen
- Nahrungsergänzung nach tierärztlicher Beratung
6. Natürliche Beruhigungshilfen
Für akute Situationen:
- Pheromone (Adaptil für Hunde, Feliway für Katzen)
- Beruhigende Musik
- Thundershirts oder ähnliche Druckbandagen
- Kräuterzubereitungen wie Baldrian, Passionsblume oder Kamille sollten ausschließlich in Absprache mit einem Tierarzt oder Tierheilpraktiker verwendet werden.
Für langfristige Unterstützung:
- Adaptogene wie Ashwagandha ( in Absprache mit einem Tierarzt oder Tierheilpraktiker verwenden)
- CBD-Öl (rechtliche Situation beachten, Dosierung mit Tierarzt/Tierheilpraktiker besprechen)
- Homöopathische Mittel (in Absprache mit einem Tierheilpraktiker verwenden)
- Bachblüten (in Absprache mit einem Tierheilpraktiker verwenden)
7. Bewegung und mentale Auslastung
Für Hunde:
- Regelmäßige, aber nicht übermäßige Bewegung
- Suchspiele und Nasenarbeit
- Ruhiges Erkunden auf vertrauten Wegen
- Schwimmübungen bei Gelenkproblemen
Für Katzen:
- Interaktive Spielzeuge
- Kletter- und Kratzmöglichkeiten
- Jagdspiele mit Katzenangel
- Futtersuchspiele und Intelligenzspielzeug
8. Soziale Interaktionen gestalten
Für soziale Tiere:
- Kontrollierte, positive Begegnungen
- Spielgruppen mit verträglichen Artgenossen
- Gemeinsame Aktivitäten mit der Bezugsperson
Für ängstliche oder einzelgängerische Tiere:
- Respektieren Sie den Ruhebedarf
- Erzwingen Sie keine sozialen Kontakte
- Bieten Sie Rückzugsmöglichkeiten auch bei Besuch
9. Bindung zur Bezugsperson stärken
Studien zeigen: Bei Hunden ist der Cortisolspiegel in Stresssituationen geringer, wenn die vertraute Bezugsperson anwesend ist. Wichtig dabei:
- Straffreies Lernen
- Keine aversiven Reize
- Vermeidung von Reizüberflutung
- Ruhiges, souveränes Verhalten der Bezugsperson
10. Wann sollten Sie professionelle Hilfe suchen?
Kontaktieren Sie einen Tierarzt oder Verhaltenstherapeuten, wenn:
- Die Symptome länger als einige Tage andauern
- Sich das Verhalten zunehmend verschlechtert
- Ihr Tier sich oder andere gefährdet
- Normale Alltagssituationen zur Belastung werden
- Körperliche Symptome wie anhaltendes Erbrechen, blutiger Durchfall oder Appetitlosigkeit auftreten
- Sie unsicher sind, wie Sie helfen können
Fachleute für Verhaltensmedizin:
- Tierärzte mit Zusatzqualifikation für Verhaltenstherapie
- Zertifizierte Hundeverhaltensberater
- Katzenpsychologen
- Tierheilpraktiker mit Zusatzqualifikation für Verhaltenstherapie
Die Zukunft: Psychobiotika und personalisierte Medizin
Die Forschung zur Darm-Hirn-Achse steht noch am Anfang. Wissenschaftler weltweit arbeiten an:
- Psychobiotika: Spezielle Probiotika, die gezielt auf Angst und Depression wirken
- Mikrobiom-Analysen: Individuelle Untersuchung der Darmflora zur personalisierten Therapie
- Neuartige Medikamente: Substanzen, die gezielt die Darm-Hirn-Kommunikation modulieren
In den nächsten Jahren könnten Ansätze, die heute noch experimentell sind, zur Standardtherapie werden.
Spezifische Krankheitsbilder: Wenn chronische Darmentzündungen das Leben belasten
IBD: Eine Diagnose, die genau betrachtet werden muss
Die Abkürzung IBD (Inflammatory Bowel Disease) bedeutet übersetzt "entzündliche Darmerkrankung" und wird in der Tiermedizin häufig diagnostiziert. Doch Vorsicht: Diese Diagnose wird oft vorschnell gestellt, ohne dass alle anderen möglichen Ursachen für chronische Darmbeschwerden ausgeschlossen wurden.
Was ist IBD wirklich? Lesen Sie hier mehr
Stress-bedingte Darmentzündungen
Stresskolitis wird durch jede Art von Veränderung im Tagesablauf ausgelöst – von Tierarztbesuchen über schlechtes Wetter bis hin zu Besuchern oder einem Umzug. Dies ist bei Hunden mit empfindlichem Magen sehr häufig und wird oft fälschlicherweise als IBD diagnostiziert.
Symptome chronischer Darmentzündungen
Die Symptome sind bei verschiedenen Ursachen ähnlich, weshalb eine genaue Diagnostik so wichtig ist:
Verdauungstrakt:
- Chronischer, wiederkehrender Durchfall unterschiedlichen Schweregrades
- Erbrechen (besonders bei Katzen häufig)
- Blut und Schleim im Kot
- Starke Blähungen und laute Darmgeräusche
- Häufiger Kotabsatz mit geringen Mengen
- Bauchkrämpfe
Allgemeinzustand:
- Starker Gewichtsverlust, vor allem bei Beteiligung des Dünndarms
- Wechselnder Appetit (mal viel, mal nichts)
- Fellveränderungen (dünner werdendes, stumpfes Fell)
- Lethargie und Lustlosigkeit
- Bei Katzen: Verstärkte Neigung zu Blasenproblemen
Verhaltensänderungen:
- Nervosität und erhöhte Reizbarkeit
- Bauchschmerzen (gekrümmter Rücken, Schmerzäußerungen)
- Rückzug
- Verändertes Sozialverhalten
Behandlung: Ein multimodaler Ansatz
Unabhängig davon, ob es sich um eine echte IBD oder eine andere chronische Darmentzündung handelt, ist der Behandlungsansatz ähnlich und sollte ganzheitlich sein:
1. Ernährungstherapie (wichtigste Säule!):
- Eliminationsdiät zur Identifikation von Unverträglichkeiten
- Leicht verdauliche Proteinquellen
- Manchmal ausschließliche Fütterung einer Eiweißquelle, damit der entzündete Darm sich beruhigen kann
- Selbstgekochte Rationen mit genauer Supplementierung
2. Stressmanagement: Da Stress eine enorme Rolle spielt:
- Strukturen und Routinen schaffen
- Stressauslöser identifizieren und minimieren
- Verhaltenstherapie bei ängstlichen Tieren
- Rückzugsmöglichkeiten bieten
- Schleimhauttheraphie
- Probiotika mit nachgewiesenen Stämmen
- Präbiotika zur Förderung nützlicher Bakterien
- Eventuell fäkale Mikrobiom-Transplantation (FMT) in schweren Fällen
4. Medikamentöse Therapie (nur bei echter IBD oder schweren Fällen):
- Entzündungshemmende Medikamente
- Immunsuppressiva bei Autoimmungeschehen
- Antibiotika nur bei nachgewiesenen bakteriellen Infektionen
5. Ergänzende Maßnahmen:
- Omega-3-Fettsäuren (entzündungshemmend)
- L-Glutamin (unterstützt Darmschleimhaut)
- Kurkuma/Curcumin (natürliche Entzündungshemmung)
Diagnostik verstehen: Was erwartet mein Tier?
Wenn Ihr Tier unter chronischen Verdauungsproblemen leidet, wird Ihr Tierarzt verschiedene Untersuchungen vorschlagen. Hier ein Überblick, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt:
Basisdiagnostik
Klinische Untersuchung:
- Abtasten des Bauches (verdickte Darmschlingen, vergrößerte Lymphknoten)
- Beurteilung des Ernährungszustands
- Fell- und Hautkontrolle
- Temperaturmessung
- Parasitologische Untersuchung (oft 3-fach zur Sicherheit)
- Bakteriologische Kultur
- Test auf Giardien (spezifischer Antigentest)
- Eventuell Clostridien-Toxin-Nachweis
- Großes Blutbild mit Entzündungsparametern
- Organwerte (Leber, Niere, Pankreas)
- Schilddrüsenwerte (besonders bei Katzen)
- Vitamin B12 und Folsäure
- Eventuell CRP (C-reaktives Protein)
Weiterführende Diagnostik
Bildgebende Verfahren:
- Ultraschall zeigt charakteristische Merkmale in der Darmwand
- Röntgen zum Ausschluss von Fremdkörpern oder Tumoren
Eliminationsdiät: Über mindestens 8 Wochen wird ausschließlich ein Protein gefüttert.
Endoskopie mit Biopsie: Nur eine Gewebeprobe aus der Darmwand liefert mit mikroskopischer Untersuchung die endgültige Gewissheit über eine IBD
Kosten und Zeitaufwand
Seien Sie darauf vorbereitet, dass die Diagnostik:
- Zeit braucht (oft mehrere Wochen bis Monate)
- Nicht billig ist (je nach Umfang mehrere hundert Euro)
- Geduld und Konsequenz erfordert
Aber: Diese Investition lohnt sich, denn nur mit der richtigen Diagnose kann Ihrem Tier wirklich geholfen werden!
Umweltgestaltung: Ein darmfreundliches Zuhause schaffen
Die Umgebung, in der Ihr Tier lebt, hat enormen Einfluss auf seine Darmgesundheit. Stress durch eine ungeeignete Umgebung kann chronische Darmentzündungen auslösen oder verstärken.
Für Hunde: Struktur und Sicherheit
Der sichere Platz:
- Feste "Homebase" (Körbchen, Box)
- An ruhigem Ort, aber nicht isoliert
- Mit Sichtkontakt zur Familie
- Tabu für Kinder und andere Haustiere
Strukturierte Umgebung:
- Feste Plätze für Futter- und Wassernapf
- Immer gleiche Gassirouten bei ängstlichen Hunden
- Vorhersehbare Tagesabläufe
- Klare Regeln und Grenzen
Reizmanagement:
- Bei geräuschempfindlichen Hunden: "Ruheraum" mit Lärmschutz
- White Noise oder beruhigende Musik
- Sichtschutz bei territorialem Verhalten am Fenster
- Angemessene, nicht überwältigende Stimulation
Soziale Strukturen:
- Klare Hierarchien in Mehrhundehaushalten
- Getrennte Fütterung bei Futterneid
- Eigene Rückzugsorte für jeden Hund
- Kontrollierte, positive Sozialkontakte
Für Katzen: Territorium ist alles
Vertikale Räume nutzen: Katzen brauchen Höhe, um sich sicher zu fühlen:
- Kratzbäume mit mehreren Ebenen
- Wandregale als "Katzenhighways"
- Erhöhte Liegeplätze mit Überblick
- Mindestens einen erhöhten Rückzugsort pro Katze
Ressourcen-Verteilung: Bei Mehrkatzenhaushalten müssen ausreichend Ressourcen vorhanden sein:
- Faustregel: Anzahl der Katzen + 1 Katzentoilette
- Mehrere Futter- und Wasserplätze
- Verschiedene Schlafplätze
- Ausreichend Verstecke
Rückzugsmöglichkeiten:
- Höhlen und geschlossene Liegeplätze
- Ruhige Räume, die immer zugänglich sind
- Plätze ohne Durchgangsverkehr
- Bereiche, in denen die Katze ungestört ist
Reizreduzierung:
- Ruhige Orte für Futter und Toilette
- Vermeidung von plötzlichen lauten Geräuschen
- Gleichmäßige Tagesabläufe
- Sanfte Beleuchtung, keine grellen Lichter
Allgemeine Umweltfaktoren
Licht und Temperatur:
- Natürliches Tageslicht-Dunkel-Rhythmus
- Angenehme Raumtemperatur (nicht zu warm, nicht zu kalt)
- Zugfreie Liegeplätze
- Kühlmöglichkeiten im Sommer
Luft und Gerüche:
- Gute Luftqualität ohne Zigarettenrauch
- Vorsicht mit Duftkerzen, Raumsprays (besonders für Katzen!)
- Regelmäßiges Lüften
- Saubere Toiletten-/Kotbereiche
Sauberkeit ohne Übertreibung:
- Regelmäßige, aber nicht obsessive Reinigung
- Geruchsneutrale oder tierfreundliche Reinigungsmittel
- Vertraute Gerüche bewahren (nicht alles sofort waschen)
- Katzentoiletten täglich reinigen, aber nicht desinfizieren
Ganzheitlich denken, erfolgreich helfen
Die Erkenntnis, dass Verhalten und Darmgesundheit untrennbar verbunden sind, eröffnet völlig neue Wege in der Behandlung von Verhaltensproblemen und Verdauungsstörungen bei Tieren. Als Tierhalter können Sie durch aufmerksame Beobachtung, präventive Maßnahmen und einen ganzheitlichen Ansatz viel für das Wohlbefinden Ihres Tieres tun.
Die wichtigsten Kernbotschaften:
✓ Stress und Darmgesundheit beeinflussen sich gegenseitig
✓ Chronischer Stress kann zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen
✓ Frühzeitiges Erkennen von Stresssignalen ist entscheidend
✓ Verhaltenstherapie und Darmgesundheit gehören zusammen
✓ Ein multimodaler Ansatz ist am erfolgreichsten
✓ Geduld und Konsequenz sind der Schlüssel zum Erfolg
Vergessen Sie nie: Jedes Tier ist individuell. Was bei einem funktioniert, muss nicht bei einem anderen wirken. Scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gemeinsam mit Tierärzten und Verhaltenstherapeuten können Sie Ihrem vierbeinigen Freund zu einem entspannten, gesunden Leben verhelfen.
Quellenverzeichnis (Auszug)
- Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik & Icahn School of Medicine: Studie zur Darm-Hirn-Achse (2023)
- Purina Institute: Forschung zu stressbedingten Verhaltensstörungen und Probiotika
- McMaster University, Hamilton: Studien zum Reizdarmsyndrom und Mikrobiom-Transplantation
- ATM Akademie: Stress und Gesundheit bei Tieren
- National Institute of Mental Health (NIMH): Forschungsprogramme zur Darm-Hirn-Achse
- Bravo et al. (2011): "Ingestion of Lactobacillus strain regulates emotional behavior and central GABA receptor expression in a mouse via the vagus nerve", PNAS
Dieser Artikel dient der Information und ersetzt nicht die individuelle Beratung durch einen Tierarzt oder Verhaltenstherapeuten. Bei gesundheitlichen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten konsultieren Sie bitte immer einen Fachmann.